Leopold Rosenmayr
 
Worte zur Eröffnung der Ausstellung von Werken Josef Pillhofers am 19. Juni 2008 in Neuberg in seiner Halle am Ufer der Mürz.
Ich bedanke mich für die Einladung hierher in die Pillhofer-Halle. Am liebsten würde ich Josef Pillhofer gleich zu Beginn umarmen, um ihm für die vielen Jahre zu danken, die wir miteinander sein konnten, während derer ich von ihm zu lernen vermochte.
 
Es ist richtig, wenn Pillhofer sagt, dass man über Kunst eigentlich nicht reden kann. Und hier möchte ich ansetzen.
 
Das Erste, was mich bei einem Kunstwerk fasst, wenn ich mich ihm öffne, ist im Grunde eine Ratlosigkeit. Ich bin nicht willens, aus dieser Ratlosigkeit in irgendeiner Weise herauszutreten, sondern ich halte mich zunächst darin auf. Ich bleibe auch den einzelnen betrachteten Stücken gegenüber in dieser Ratlosigkeit. Hier an der Mürz beziehe ich in meine Ratlosigkeit auch  diesen wunderbaren Gesamtraum der Pillhofer-Halle ein.
 
Ich erlaube mir bei dieser Halle, in der wir uns hier versammeln, um Pillhofers Werke zu sehen, zu empfehlen, nicht von Brücken in die Zukunft zu sprechen, sondern von einer Wölbung in die Zukunft. Diese Halle vermittelt durch eben ihre Wölbung etwas, das ich hier sehr imponierend finde. Die Halle bewegt auch die Kunstwerke im Geist einer Wölbung, da ja diese Wölbung eine urtümliche Bewegung ausdrückt. Die Wölbung bietet gleichzeitig einen Schutz, beinhaltet, ja birgt geradezu ein Aufmerksam-Machen und erlaubt ein Sich-Konzentrieren-Können. In dieser Wölbung wird hier vieles möglich. Das möchte ich voranstellen.
 
Hier unter den Freunden von Josef Pillhofer und den Betrachtern seiner Werke kann ich es klar ausdrücken: Ich wünsche mir immer mehr, ein Werk nicht verstehen zu können. Ich bin zwar als Wissenschaftler darauf angewiesen, mich mit Verstehensproblemen zu befassen. Aber der Kunst gegenüber verhalte ich mich anders.
 
Mein großer Meister Wilhelm Dilthey sagte vor hundert Jahren: „Alles beginnt mit dem Erleben.“ Das Erleben ist, wenn es verarbeitet wird, dazu geneigt, zum Verstehen zu drängen. Das ist für die Wissenschaft, für die von der Natur und für die von der Geschichte, nötig. Über das Erleben kann ich in der Wissenschaft zum Verstehen kommen. Aber dem Kunstwerk gegenüber ist dies anders.
 
Ich lehne es ab, ein Kunstwerk zu verstehen. Ich will mich ihm aussetzen, ich will, dass es etwas bewirkt oder dass ich mich ihm einfach aussetze. Wenn ich hier etwas über das sage, was ich hier sehe, oder darüber, was ich glaube, dass es in mir bewirkt, dann werde ich auch ganz offen von mir selber sprechen müssen.
 
Ich möchte allerdings ein Stichwort zu Josef Pillhofer voranstellen. Durch die Jahre, in denen ich gesehen habe, wie Josef Pillhofer arbeitet, in diesen Jahren, hat Josef  mir gegenüber immer wieder das Wort „Natur“ verwendet, sei es bei einem Akt, bei einer Landschaftszeichnung vor der Natur oder bei einem abstrakten Kopf, er sprach immer wieder von der Natur.
 
So fällt mir zu Josefs Ansprechen „der Natur“ ein großer Satz des Heraklit ein, aus der von Karl Jaspers so benannten Achsenzeit, der Zeit des Beginns der griechischen Philosophie, des Buddha in Indien und der des Konfuzius in China.
 
Der Satz über die Natur stammt von Heraklit aus der ionischen Stadt Ephesos an der kleinasiatischen Küste. Heraklit sagte dort um 500 v. Chr.: „Natur pflegt sich versteckt zu halten.“ Das ist ein aufs erste sehr überraschender Satz und erscheint hier in dieser Bergwelt, wo Natur offen zu liegen scheint, sehr unglaubwürdig.
 
Wenn ich die Schneealm anschaue oder zur Veitsch hinüber blicke, scheint nichts versteckt zu sein. Ich möchte allerdings doch für den Satz von Heraklit eintreten, dass Natur sich versteckt hält.
 
Ich stieg einmal im Spätwinter mit zwei Freunden vom Mürztal aus mit Skiern im Nebel zur Veitsch hinauf. Wir glaubten es zu schaffen. Die letzten hundert Meter haben wir nicht geschafft. Wir sahen – so stark war der Nebel – auch die eigenen Skispitzen nicht mehr. Der Schnee war feucht und demgemäß sehr schwer. Es bestand die Gefahr, dass sich Schneebretter lösen würden. Wir kehrten um und fuhren sehr vorsichtig zu Tal. Das war das erste Mal, dass ich anfing, die Hohe Veitsch zu sehen. Das heißt, für mich war die Hohe Veitsch ein wenig aus ihrem Versteck herausgetreten, dadurch, dass sie mich abgewiesen hatte, mit schwierigen Verhältnissen und bei Nebel. So empfand ich die Herauslösung der Hohen Veitsch aus ihrer Verstecktheit durch die Erfahrung der Vielfalt ihrer Bedingungen, des Abweisens und ihrer verhüllten Schönheit im Nebel.
 
Meine vielen Fahrten zum Dachstein und meine Besteigungen des Massivs zeigten mir immer wieder, wie versteckt die große Dachsteinsüdwand ist. Erst als ich sie einige Male kletternd durchstiegen hatte, erkannte ich mehr und mehr, wie versteckt sie war. Durch den Zugang und seine Gefahren rückte mir die erlebte, mit Händen be-griffene Wand noch ferner. Auf einer Kletterroute zum Gipfel des Dirndl im Dachsteinmassiv erlebte ich durch einen Bergsturz wenige Schritte hinter mir eine unüberbrückbare Distanz und die Unverständlichkeit des Berges. Der Tod war zwischen mir und dem Berg herausgetreten. War die Natur des Berges herausgebrochen? Sie hätte mich bei einem Haar das Leben gekostet.
 
Dieser Grundgedanke der versteckten Natur beseelt mich, wenn ich verschiedene Kunstwerke, die man hier abstrakt oder naturalistisch nennen mag, anschaue. Josef Pillhofer ist jemand, der die versteckte Natur hervorholt, sie in ihrer wenn auch verborgenen Bestimmtheit zu entdecken versucht. Das ist eine große, geradezu unzumutbare Leistung, die er da vollbringt.
 
Gerade die neuere Biologie und Erkenntnistheorie, die, miteinander verbunden, Eric Kandel, den Nobelpreisträger, geboren in Österreich, beschäftigt, geht der Frage nach, wie man der Welt begegnen kann. Kandel hat durch Jahre versucht, das bei der Meeresschnecke Aplysia zu erkennen, indem er sich mit ihrer Erinnerungsfähigkeit, ihrem Gedächtnis befasste. Er meinte: „Zwei Dinge sind Voraussetzung: Habituation und Sensitivierung.“ Das heißt, die Meeresschnecke muss, um etwas wahrzunehmen, sich an etwas gewöhnen. Sie muss auch eine gewisse Sensitivierung, also eine Steigerung der Empfindungskraft dafür entwickeln, um eine Erinnerung für ihr Verhalten zu gewinnen. Das halte ich für sehr wichtig. Kandel sagt mit anderen Worten, was Heraklit sagte: „Denn die Natur versteckt sich ja.“ Es bedarf eines Lebensprozesses der Habituation und der Sensitivierung, um Erfahrungen zu machen und sie, wie man heute sagt, „abzuspeichern“. Kandel behauptet aufgrund seiner mehr als bemerkenswerten Forschung: „Wir begegnen der Welt weder direkt noch exakt.“ Es geht bei der Forschung um Umwege. Nur so kann die Forschung die sich versteckende Natur erreichen. Das geschieht anders als in der Kunst. Wenn es im Letzten doch auch Gemeinsamkeiten im Suchen gibt, geht das Finden in Wissenschaft und Kunst getrennte Wege.
 
Ich glaube, dass die Enthüllung und die gleichzeitige Zuordnung, die durch die Kunst bewirkt wird, so entsteht, dass sie Momente und Elemente aus dem Versteck holt. Was aus dem Versteck herausgenommen wird, ist das, was mich „fesselt“ und mich dabei und dadurch auch befreit.
 
Ich bin davon begeistert, dass man Natur aus ihrem Versteck herausholen kann. Das ist das, was ich hier sehe. Ich sehe vieles, was aus dem Versteck geholt wurde. Die Griechen gebrauchten dafür in ihrer Philosophie das große Wort der Aletheia, der Unverborgenheit. Sie nannten diese Unverborgenheit Wahrheit. Man muss sie aus dem Versteck holen.
 
Wenn ich mir Pillhofer-Skizzen anschaue, die aus den letzten Wochen des Frühjahrs 2008 stammen, z.B. „Die Kauernde“ oder „Die Schreitende“, so habe ich das Gefühl, hier ist etwas aus der Verborgenheit herausgeholt worden. Die Natur der Bewegung, die Natur der in sich gekrümmten Gestalt ist aus der Verborgenheit herausgelockt worden. Die Rundung und Bewegung dieses Rückens ist eine „Aletheia“ besonderer Art.
 
Für mich ist Josef Pillhofer jemand, der die Verstecktheit der Natur zu entdecken pflegt und das Verborgene uns vor Augen führt. Er lässt uns damit ein Stück Natur erkennen, sei es in der menschlichen Figur, sei es in der Landschaft, sei es in seinen so genannten abstrakten Arbeiten, die wir aufs erste gar nicht zuordnen können, in der jeweils eigenen Natursicht und Naturerfahrung.
 
Beim Abstrakten müssen wir erkenntnismäßig noch mehr arbeiten, um dem Werk zu folgen. Hier wird das Enthüllte, das Unverborgene, auf eine ganz eigene neubestimmte Stufe gestellt. Von dort blickt man in die Natur neu hinein, soweit sie sich sehen lässt.
 
Ich möchte eine zweite Drehscheibe des Nachdenkens erwähnen, die ich für das Werk von Josef Pillhofer für wichtig halte. Ich beschäftigte mich unlängst in einer meiner Lehrveranstaltungen im Rahmen einer kultursoziologischen Vorlesung im Sommersemester 2008 mit der Dichtung des Sophokles, dabei besonders mit der „Antigone“ und der Philosophie des alten Griechenland, wie sie von Sophokles in seiner Dichtung aufgenommen wurde. Am Schluss der Tragödie, aufgeführt 442 v. Chr., steht ein Satz, den ich hier vorbringen möchte. Ich will Ihnen damit nahebringen, dass man die Werke hier nicht erklären oder verstehen soll, sondern dass man selber von seinen eigenen Vorstellungen oder Gedanken ausgehen kann, um diesen Werken zu begegnen, also ich z. B. von meiner Lektüre der “Antigone“ des Sophokles. Dann kann man etwas von dem auf sich wirken lassen,  was man hört und sieht, von der Dichtung oder der bildenden Kunst. 
 
Dieser mich besonders bewegende Satz des Sophokles am Schluss der „Antigone“  lautet: „Das weitaus Erste an höchstem Glück ist Besonnenheit.“ Wie ist Besonnenheit mit der Leidenschaft einer künstlerischen Erfassung und der ungeheuren Arbeit einer Darstellung vereinbar? Für mich zeigt sich aber, wenn ich nach meiner Erfahrungsweise der ausgestellten Stücke, Elemente des entfalteten Lebenswerks von Pillhofer vor mir betrachte, die uns hier an diesem Abend gezeigt werden, ein hoher Grad von Besonnenheit.
 
Ich bin nämlich überzeugt, sagen zu können, Josef Pillhofer sei ein Meister der Besonnenheit. Es wird kein Ex- oder Impressionismus, es wird uns keine Verführung zu irgendeinem Geschmack angeboten. Pillhofer bringt uns durch sein Werk die große Tugend, die „Tüchtigkeit“ der Besonnenheit nahe. Denn was die Besonnenheit letztlich nach Sophokles bewirken sollte, das ist, dass wir das, was wir von den Göttern erfahren, mit Scheu betrachten. Besonnenheit ist eine besondere Eingangspforte, der Weg führt weiter durch sie.
 
Zum Jenseitigen gehört, wie immer wir uns ihm nähern, Besonnenheit. Ich sage nicht „Rationalität“, aber Besonnenheit. Durch die Besonnenheit in Pillhofers Werk, wie ich dieses Werk erlebe,  entsteht für mich eine Führung in Richtung auf das „Anschauen“. Die Besonnenheit hilft mir dabei. Sie vermittelt sich mir durch die Maße im Werk, durch die Maßverhältnisse in jeder einzelnen Skulptur. Ich gewinne dadurch eine Sicht voller Scheu.  Es gelingt mir, diese Scheu dadurch zu erfahren, dass ich mich öffne, um etwas auf mich wirken zu lassen. Ich kann mich aufgrund der Besonnenheit, die mir entgegentritt, darauf einlassen.
 
Ich will noch eine dritte Beobachtung mitteilen. Sie beschäftigt mich immer, wenn ich neue Werke von Josef Pillhofer betrachte.
 
Ich möchte besonders auf den hier ausgestellten Bronzeblock hinweisen, auf den durch zwei in sich verschobene Teile ausgezeichneten Block, der mir heute sichtbar machte, was ich berichten will. Ich erkenne am Werk von Josef Pillhofer vielfach das, was ich das Unvermutete nennen möchte. Es ist unvermutet in der Selbstverständlichkeit der Besonnenheit und in der Unverborgenheit, wie sie deutlich in den Aktzeichnungen hervortritt oder dadurch, was in diesem Block, der zwei in sich verschobene Stücke enthält, zu sehen ist. Ich würde mir manchmal eine andere Fortführung der Gestaltung erwarten, vielleicht sogar erwünschen. Es fällt mir schwer, das Werk anzuschauen, weil ich mir einen anderen Winkel als den vorgefundenen erhoffen würde. Pillhofers Winkel in dem Block der zwei in sich verschobenen Stücke, wirkt auf mich wie ein unvermutetes Ereignis. Ich fühle darin eine andere Richtung als die von mir erwartete. Pillhofer konstruiert so, wie er es vermutet, oder wie er den Winkel aus der Verborgenheit der Natur heraustreten lässt. Das scheint mir besonders wichtig an Pillhofers Werk zu sein, dass es nie absehbar wird. Das Unabsehbare im Abstrakten als auch in der späten erneuerten Zuwendung zu den Akten tritt hervor. Das Unvorhersehbare, geboten bei aller Besonnenheit, macht die Stärke in Josefs Arbeiten aus.
 
Ich möchte mich zum Schluss bedanken und hervorheben, dass vielleicht meine Hinweise auf dieses Unvermutete der gefundenen Wahrheit, auf das Einbezogenwerden in die Unverborgenheit, die Aletheia des hier sichtbaren Werks, diesem Werk näher kommen als jede Erklärung, als jeder Versuch zu „verstehen“.
 
Ich möchte mich bedanken, dass ich so viel Unvermutetes in vielen Winkeln, die Josef Pillhofer in seinen Köpfen, in seinen Figuren darbietet, erfahren konnte. Und dass ich deshalb nie in eine Lebenssicherheit geraten werde, weil ich schon von der Formgebung eines großen zeitgenössischen Künstlers weiß, dass wir uns dem Unvermuteten anvertrauen dürfen. Danke dafür, lieber Josef.