Alfred Schmeller
DER KOPF, DER HAT SIEBEN ECKEN


Zur Ausstellung des Bildhauers Josef Pillhofer in der Galerie Würthle                 Juni 1961

„Da legst di nieder“, sagte der Bildhauer Josef Pillhofer zu einer seiner Figuren, und die machte es. Sie liegt jetzt dort in der Galerie Würthle in der Weihburggasse. Liegen ist kein Ausdruck, sie ist wie hingeklatscht. „Und streckst d’Füß von dir!“ sagte er zu einer anderen, und sie tat es. Sie hat einen rechten Fuß wie ein Photostativ (wie von einem ganz dicken Photostativ), der, aus sich herausschießend, sich verlängert. Da muss man aufpassen, wenn man vorbeigeht. Mit einem Wort, was die Figuren des Bildhauers Pillhofer tun, das tun sie gründlich, demonstrativ, mit äußerstem Ernst.
Was liegt, das liegt und biegt sich wie ein Indianerbogen, was steht, das steht festgemauert (wie in versteinerten Röhrenstiefeln), was sitzt, das sitzt bedeutsam. Pillhofer stellt Tätigkeitsworte dar. Eine Tänzerin tänzelt so vor sich hin. Sie streckt die Zehe vor, als sei in der Galerie Würthle der Fußboden besonders gefährlich. Die Wadeln sind eckig angespannt, die Oberschenkel unverschämt gerundet, oben angelt sie nach einem Halt, Pillhofer gelingt es, selbst voluminöse Damen sich graziös bewegen zu lassen. Und erst wenn sie sich strecken, dann werden sie glatt zur Telegraphenstange.
Eine Negerin in weißem Gips schämt sich. Kein Wunder. Pillhofer beobachtet den Menschen, wie er sich bewegt, und er hat eine infame Beobachtungsgabe, bestimmte Bewegungen gerade in der Zehntelsekunde zu erfassen, wenn sie besonders charakteristisch sind. Er zeigt uns,  was Bücken ist. Dann Bücken im Sitzen. Dann Drehen im Sitzen. Die sich drehende Sitzende erinnert ein wenig an die Figur, die am Fuß der Albertinarampe sitzt (von Wotruba). Das ist aber auch alles, was an Wotruba erinnert, bei dem Pillhofer Schüler war. Denn die sich drehende Sitzende dreht sich aus dem klassischen Koordinatensystem heraus, sie kippt aus der traditionellen Raumvorstellung, und Pillhofer geht partout falsch über die Kreuzung. Er hat ganz neue Augen, und das kanonische Stehen, das Klischee vom Stehen ist vollkommen aufgegeben. Die ganz einfachen Körperbewegungen werden drohend deutlich, schmerzhaft genau, sie werden plastisch definiert. Verstärkt. Die Raumpunkte werden exakt ausgelotet.
Ein Porträtkopf hat sieben Ecken. Wenn ein Bildhauer derart Ernst macht mit den Beziehungen und das Gleichgewicht immer betont, indem er es stört, dann ist es auch völlig gleichgültig, ob er figurativ oder nonfigurativ arbeitet. 
Wichtig bleiben die Eckpunkte dieser Sternbilder, die den Raum negieren, indem sie stoßen, sich wenden, Schenkel blitzschnell anziehen, frierend stehen, in den Boden gerammt sind, pedantisch balancieren, turnen.
Zur Erholung von der Betätigung, diese Tätigkeiten kantig, abrupt, abgehakt zu fixieren, zeichnet der Bildhauer die Linien der Landschaft nach (Laaerberg, Mürztal, Hohe Wand und Scheibe, Wienerwald), er fährt abstrakten Linien in diesen Landschaften nach, wie sie in Wirklichkeit sind, und er gelangt zu realistischen Ergebnissen. In diesen schönen Zeichnungen und in einer Reihe hervorragender Studien erweist sich Pillhofer als einer unserer großen Bildhauer. Die so aktiven Figuren „schön“ zu finden, ist nicht jedermanns Sache.

Aus:
Sehschlacht am Canal Grande
Alfred Schmeller – Aufsätze und Kritiken
Ausgewählt und herausgegeben von Otto Breicha
Jugend und Volk Wien München 1978