Entstanden in Paris

Josef Pillhofer über seine Pariser Zeit (1950)
publiziert in: VERNISSAGE Nr. 3, Wien 1994, S. 29 – 32

Im Oktober 1950 erhielt ich das französische Staatsstipendium für ein Jahr. Ich war das erste Mal in Paris, der Stadt,  welche meine Imagination schon lange anregte, in welcher Bildhauer und Maler lebten und Bedeutendes schufen. Ich kannte von Büchern und Ausstellungen vieles, was ich nunmehr in lebendiger Realität sehen und kennenlernen sollte.

Paris erlebte ich 1950 noch als eine graue und schwarze Stadt. Später sollten sich die alten berühmten Gebäude, Kathedralen und Kirchen, nach einer rigorosen Restaurierungs- und Verschönerungswelle, wie eine ältere amerikanische Dame verjüngt in einem neuen Gesicht zeigen. Zur gleichen Zeit war der amerikanische Einfluss in der Kunst wichtig geworden, nicht unähnlich der oben beschriebenen Verjüngungskur. Auch waren schon die ersten Anzeichen einer Verlagerung  von der Kunstmetropole Paris nach London und New York zu bemerken. Noch zu Lebzeiten Maillols begann der große Aufbruch in die Moderne auch in der Plastik durch den anbrechenden Kubismus. Die Bildhauer Lipchitz, Archipenko, Laurens und Zadkine waren wesentliche Vertreter dieser Richtung. Dieser Aufbruch war auch noch 1950 zu verspüren.

Monsieur Dorival, Direktor des Musée d’Art Moderne,  gab mir Empfehlungsschreiben, welche mir die Tür zu den wichtigsten Bildhauern in Paris öffneten;  Mme. Germaine Richier, Alberto Giacometti, Henri Laurens, Ossip Zadkine, Gilioli und viele andere lernte ich so kennen.

Das Schüleratelier von Zadkine in der Académie de la Grande Chaumière wurde zu meiner Arbeitsstätte. Wenige Meter daneben, an der Kreuzung des Bd. Montparnasse mit dem Bd. Raspail, befand sich das Denkmal von Balzac, welches mich als außerordentliches Kunstwerk und in seiner Kühnheit beeindruckte. Wie ein schräger Felsen stand dieses Monument im brodelnden Verkehr der Stadt. Zwei Giganten in ein Gefäß verschmolzen. „À BALZAC À RODIN“ ist in den Sockel eingemeißelt. Im Café Dom schräg gegenüber verkehrten Maler und Bildhauer, sie diskutierten, stritten und gingen aus und ein. Ich schrieb von dort meine ersten Eindrücke nach Wien und auch an Wotruba, welcher sie seinen Schülern vorlas.

Der tägliche Weg zu meiner Arbeit führte von der Bastille, in deren Nähe ich wohnte, vom linken Seineufer über den herrlichen Renaissanceplatz des Vosges, am Tour St. Jacques und an Notre Dame vorbei ans rechte Seineufer, den Bd. St. Michel hinauf, den Jardin du Luxembourg überquerend bis zum Bd. Raspail ins Atelier. Fernand Léger, welcher sein Atelier in der Nähe hatte, begegnete ich fast täglich zur selben Zeit in der Rue de la Grande Chaumière. Er war ein Mann, dessen Aussehen und Gang die Mischung eines bretonischen Bauern mit der eines Bankdirektors vermittelte. Zadkine erschien anders, ein hagerer, sehniger Mann, etwas dem Aussehen eines kleinen krächzenden Hahnes ähnlich. Er war in seiner Art ein großartiger Lehrer. Meine ersten abstrakten Skulpturen entstanden noch im Atelier von Zadkine. Sie waren ganz gegen seine Vorstellungen gerichtet. Am Ende meines Parisaufenthaltes hatte ich eine Ausstellung in der Galerie Silvagni am Quai Voltaire. Laurens, den ich dazu einlud, aber auch Paul Celan, mit dem ich befreundet war, sahen und schätzten meine Arbeiten. Durch Paul Celan lernte ich auch andere Künstler kennen. Ich besuchte Giglioli, in dessen Atelier ich Poliakoff kennenlernte. Ingeborg Bachmann war zu dieser Zeit in Paris. Ich besuchte mit ihr viele Ausstellungen und Künstler.

Im Atelier von Zadkine wurde ausschließlich vor dem Modell gearbeitet, doch ein Modell war für Zadkine auch immer thematisch motiviert. Ein blondes, langhaariges Mädchen mit einem Messer in der Hand sollte zu einer Lukrezia werden, wie bei Cranach, aber modern.  So gab es auch ein Mädchen mit Fahrrad. Die Skulptur meiner Radfahrerin entstand. Zadkine nannte sie eine Tänzerin und war damit wenig einverstanden, lobte aber die plastische Qualität dieser Arbeit. Die plastische Einheit zwischen zwei so verschiedenen Realitäten zu finden, war dabei die Aufgabe, den Widerspruch aufzuheben zwischen einem Fahrrad mit seinen Fahrradspeichen und den prallen Mädchenbeinen und Mädchenbrüsten. Sollte das Fahrrad eine Symbiose  mit dem Mädchen eingehen, so war einiges zu beachten. Die Balance zum Beispiel. Das Mädchen balanciert auf dem wackligen Fahrrad. Gelingt es die Balance auch als allgemein plastisches Gesetz zu erhalten, so bildete ein gemeinsamer Rhythmus die tragende Struktur. Doch das plastische Volumen, die Verteilung der plastischen Massen, war ein weiteres Problem. Aber auch das Runde am Rad mit den Rundungen des Mädchenkörpers zu vereinigen. Es musste von beiden Realitäten etwas abgegeben werden zu Gunsten eines neuen, einheitlichen Ganzen. Realismus war ausgeschlossen. Das technische Gerät Fahrrad und das lebendige Mädchen mussten verwandelt werden, ein Gebilde entstehen, das einheitlich beide Wirklichkeiten vereinigte.

Laurens, welcher für mich wesentlicher war, hatte sich in sein stilles Atelier zurückgezogen und war in seinen unliterarischen Figuren der für mich wichtigere Lehrer. Lehmbruck, der mich in meiner frühesten Entwicklung bestimmte, war in seinem Darstellen als Deutscher ein Schüler Maillols, Laurens als Fortsetzer von Maillol ein Franzose. Ich hatte das Glück, Laurens öfter besuchen zu können. Sein Atelier war voll mit den herrlichsten Skulpturen. In seinem kleinen Garten erklärte er mir jede einzelne Plastik. Er nahm sich aber auch viel Zeit, um Stöße meiner kleinen Zeichnungen anzuschauen und etwas dazu zu sagen. „Du suchst eine Synthese“, sagte er.

Laurens hat uns gelehrt, dass gewisse Hypertrophien des Plastischen  zu neuen Wesen führen.  Rhythmische Frauenfiguren, wenn sie outriert dargestellt werden, werden zu Sirenen, die Beine zu Flossen, der Oberkörper zu dem einer Nymphe. Er hatte damals seine erste große Ausstellung im Musée d’Art Moderne und saß schon lange vor der Eröffnung auf den Stufen des Eingangs zum Museum. „Verdirb dir in meiner Ausstellung nicht die Augen“, sagte er zu mir.

Im Frühjahr 1951 war auch die erste Ausstellung von Skulpturen von Picasso im Maison de la Pensée. Für mich war der Vergleich von Brancusi mit Picasso zwingend. Für den einen war das Anliegen von Sublimierung von abstrakten astralen Vorstellungen bis hin zum Absoluten notwendig. Bei meinen Besuchen in seinem  Atelier  beobachtete er ständig seine sich auf großen, runden Steinen langsam drehenden Skulpturen und sprach dazu: „Je cherche l’absolue.“ Vielleicht war das Werk von Brancusi die plastische Verwirklichung der philosophischen Theorien vom Absoluten, die Hegel 200 Jahre zuvor entwickelt hatte.

Wotruba kam nach Paris. Wir besuchten gemeinsam den Louvre. Ich erlebte seine ängstliche Begeisterung angesichts der französischen Kunst. Er bewunderte und verehrte Degas zum Beispiel und spürte den hohen Grad der bildnerischen Sensibilität dieses Franzosen. Für mich stand und steht die menschliche Sinnbezogenheit mit der natürlichen Erscheinung im Medium der Skulptur nicht im Widerspruch zu einem glaubhaften zeitgenössischen Anliegen, so auch noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, allerdings in offener Wahrnehmung und mit den Erfahrungen der Moderne. Vor allem das, was mir Paris dazu vermittelte, bildete nach meiner Rückkehr in Wien die Grundlage und Ausgangssituation für alles Weitere.